Ausgabe 9 / Februar 2014
Vernünftige Bürgerlichkeit. Wolf Lepenies, Europa und das Mittelmeer
von Gunter Hofmann
Genau besehen, begann die Geschichte mit den französischen Saint-Simonisten. Sie entwickelten eine Vision, wie es weitergehen könnte mit dem Mittelmeer und Europa, festgehalten in Denkschriften im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, die noch voller Sympathie für das damalige Deutschland steckten. Praktiker waren es, Ingenieure, Banker, Industrielle, nicht vollmundige Europa-Rhetorik pflegten sie, sie „träumten“ von Eisenbahnen und Kanälen, einem System, das Europa praktisch verbindet, alles sorgfältig gegenfinanziert von Baron Rothschild. Wenn die Einigung Europas heute als „Projekt des Nordens“ erscheint, fügt Wolf Lepenies dieser Skizze hinzu, dann muss man bedenken, dass vieles davon in Wahrheit „im Süden vorgedacht“ worden ist, auch wenn er es nicht umzusetzen vermochte: Ein großes psychologisches Problem für diejenigen, denen die originäre Idee zu danken ist.
So war das, so ist das immer. Kaum sitzt man mit dem früheren Rektor (von 1986 bis 2001) und heutigen Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs in seinem Büro nahe dem Hauptgebäude des Kollegs zusammen, schon ist man mitten bei der Sache. Es geht, wie könnte es anders sein, um die große Schlüsselfrage, die ihn umtreibt, um jenes neue Europa, in dem der Nord-Süd-Konflikt den Ost-West-Konflikt abgelöst und zu einem neuen „Himmelsrichtungsstreit“ geführt hat; aber zugleich auch um eine sehr spezifische Annäherung. Die Dominanz des Nordens, die Suchbewegungen im Süden: Locker fügt Lepenies Mosaiksteine aus der Historie zusammen, natürlich spielt François Mitterrand mit seinem socialisme du cœur gegen einen socialisme de raison eine Rolle darin, er, der für die Sozialisten aus dem Süden Europas, den Mittelmeerstaaten, sprechen wollte, sich aber auch mit dem skandinavisch sozialisierten Willy Brandt blendend verstand. Oder: Fernand Braudels monumentales Buch über Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipp II., das Wolf Lepenies gerade als Beleg dafür dient, was eigentlich in Europa zusammenführt und trennt.
Dafür hat er – Soziologe von Haus aus, Hochschullehrer seit 1971, directeur d’études associé an der Maison des sciences de l’homme und früheres Mitglied der School of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton – ein ganz eigenes Format gefunden, sein Format: Ironisch erinnert er gern an die Zeiten, „als ich noch richtiger Soziologe war“. Den Fachdebatten jedoch entzog er sich schon früh, „Autor“ nennt er sich heute am liebsten. Das trifft punktgenau. Man nimmt seine Texte zur Hand, kleine Feuilletons über das Mittelmeer aus afrikanischer Sicht oder über den französischen Linken Jean-Luc Mélenchon oder voluminöse Biografien wie jene über Sainte-Beuve oder Auguste Comte, die seltsamen Anti-Helden, und ist immer neu verblüfft über den sehr eigenen Lepenies-Sound.
Alexandre Kojève, bei ihm verweilen wir gerade, gehört auch zu dieser südeuropäischen Vorgeschichte, an die er erinnern möchte: Der russisch-französische Philosoph und eminente Hegel-Wiederentdecker, unter dessen Zuhörern Hannah Arendt und Raymond Aron saßen. In einer Denkschrift unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges riet er der französischen Politik, den Nationalstaat zu vergessen und einen größeren Staatsverband anzustreben; ein katholisches „empire latin“ mit Spanien und Italien sollten die Franzosen gründen, um nicht zur zweiten Rolle verurteilt zu sein. Giorgio Agamben, der Italiener in Paris, hat erst im vergangenen Frühjahr diesen Gedanken – ein Bündnis Frankreichs mit Spanien und Italien – aufgegriffen, um der germanischen Dominanz in Europa einen Riegel vorzuschieben. Überholt, aber spannend, fand Lepenies.
Kultur und Politik sind nichts Separates, sie gehören – wider eine traditionelle deutsche Neigung – zusammen, anders lässt sich eine vernünftige Bürgerlichkeit nicht denken, und dabei geht er im Zweifel voran. So machen die Franzosen es doch vor, voilà! Wenn deren Politik nur so intelligent wäre wie ihre Debatten, wenn sie bloß etwas ausstrahlte von dem, was Lepenies entdeckt, wenn er am Donnerstag – „der schönste Tag in Frankreich!“ – seine vier politischen Magazine aufschlägt, sich hineinversenkt und dann schon wieder auf die Wochenendausgaben der großen Tageszeitungen freut!
Wir sind im Europa von heute. Lepenies: „Wenn der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias auf einen Rüffel des deutschen Finanzministers erwidert, ‚Wer ist Herr Schäuble, uns eine Lektion zu erteilen!‘, dann ruft die Zivilisation die Barbarei zur Ordnung.“ Tenor sei bei ihm nicht, die Griechen vor aller Kritik zu bewahren, klar machen müsse man sich jedoch, welche historischen Verletzungen sie erlitten haben. Nicolas Sarkozys Lieblingsidee von der Mittelmeerunion war – so besehen – nicht nur eine private Marotte, sondern stand am Ende einer langen Vorgeschichte. Angela Merkel zerhäckselte natürlich kühl die Pläne von Freund Nicolas zu einer „Union für das Mittelmeer“, wenig davon blieb.
Paukenschläge sind nicht gerade das, was Lepenies liebt, er trumpft nicht auf mit steilen Thesen. Ein engagierter Intellektueller ist er dennoch stets geblieben, der sich bei aller Wertschätzung der Mitte, wenn es darauf ankommt, eindeutig positioniert, auf Seiten der weltoffenen, liberalen, europäischen Republik, die sich ehrlich empört, wenn Flüchtlinge aus Afrika im Mittelmeer ertrinken.
Wer sonst außer Frankreich und Deutschland kann das komplizierte Ostwesteuropa denn integrieren? Das Duo, wie gewohnt, aber der „ausgeschlossene Dritte“, Polen, müsste dringend hinzukommen, würde er heute erwidern. Dass das „Weimarer Dreieck“ – Paris, Warschau, Berlin – dringend wiederbelebt werden müsse, ergibt sich für ihn ganz zwangsläufig aus der Renaissance Europas seit 1989. Nicht zufällig hat er als Rektor des Kollegs nach der „unerhörten Begebenheit“, dem Fall der Mauer und der Vereinigung Europas, dazu beigetragen, dass in Budapest, Sankt Petersburg, Sofia und Bukarest erfolgreiche Parallel-Einrichtungen ins Leben gerufen wurden.
Vorsichtig und diplomatisch, wie er es liebt, wägt Wolf Lepenies ab, noch sehe er keine „Spaltung in Europa“, immer noch nicht, was er erhoffe, sei, dass Angela Merkel die neue Amtszeit nutze, um in die Geschichtsbücher einzugehen. Der Ehrgeiz müsste – aus seiner Sicht – doch sein, jenseits der bisherigen Austeritätspolitik und neben allen Strukturreformen mit François Hollande zusammen ein Programm zu entwickeln, das Wachstum befördere, den Jungen in Europa helfe, natürlich „mit einer gewissen Disziplin im Monetären“. „Intelligente Leute in beiden Ländern haben wir doch genug“, findet er, um zusammen so etwas zu ersinnen – eine Art Marshallplan, wenn man so will. Nicht das Geld war damals entscheidend, sondern das „Verständigungsgebot“.
Einen Zeitungsmenschen erkennt man in ihm auch, und wie. Über vieles schreibt er, weil ihn vieles fasziniert, Sport inklusive. Eine NBA-App hat er selbstredend auf seinem iPhone, die jeweils neuesten Spielergebnisse aus Amerika lässt er sich nicht entgehen. Neulich hat er sich mit Basketball-Ass Dirk Nowitzki von den Dallas Mavericks befasst, der kein „Star“ sei, aber ein „Großer“. Wenn unter widrigen Umständen – so endete sein Artikel – ein Großer den verdienten Erfolg hat, haben wir das beruhigende Gefühl, es ginge gerecht zu in der Welt.
Gerade fällt mir ein Feuilleton in der Welt aus seiner Feder über Pierre Rosanvallon in die Hände, der den „wahren Roman der Gesellschaft“ geschrieben hat – ein Historiker, der gegen die Flucht in die Extreme eine Rückkehr ins Zentrum befürwortet und ein „Parlament der Unsichtbaren“ ins Leben rief. Während Lepenies’ Held, der Kritiker Sainte-Beuve, über die Invasion der literarischen Demokratie lamentierte, in der Schreiben nichts Besonderes mehr sei, erhofft Rosanvallon sich eine Wiederbelebung der Demokratie von einer Gesellschaft der Schreibenden. Wem er recht gibt, verrät Lepenies übrigens nicht.
Einer Flucht in die Innerlichkeit, diesem Sonderweg der deutschen Bürgerlichkeit, hat er sich stets widersetzt. Inzwischen herrschen – aus seiner Sicht – wohl Normalzeiten. Aber nehmen die Deutschen nicht eine sehr dominante Rolle in Europa ein, herzlich unbekümmert um französische Empfindlichkeiten? Was ist zu halten von den deutschen Zuständen heute, 2014, von dieser seltsamen Mischung aus Einfluss durch schiere ökonomische Größe und Politikferne, als würde heutzutage nicht das Publikum, sondern die Politik selber entpolitisiert? Wie erklärt sich die neue Zurückhaltung der Intellektuellen und was heißt es, wenn Einmischungen erlaubt, erwünscht und zugleich folgenlos sind?
Zu solchen Tendenzen steht Wolf Lepenies irgendwie quer. Wohin die Republik sich auch gerade wendet – unauffällig widersetzt er sich dem Rückzug, so wie ihm der Bastillesturm widerstrebt. Eigentümlich insistierend, macht er auf seine Weise vor, was er mit Engagement, Haltung, Anstand jeweils meint. Literatur, philosophische Texte, Essays, Worte – er benutzt sie dabei unermüdlich und unaufgeregt als soziologisches und zeitgenössisches Studienmaterial, sodass man manchmal auf den Gedanken verfallen könnte, er bewege sich nur in einer aseptischen Überbauwelt, der das soziale Unterfutter fehle. Intelligente Kritiker – und das sind die, die er ernst nimmt – haben ihm diesen Vorwurf denn auch gerne gemacht; „da ist ja was Wahres dran“, konzediert er. Sein schlechtes Gewissen aber sei „nicht so stark, dass ich es korrigieren wollte“, fügt er durchaus vergnügt hinzu.
In den Romanen, den philosophischen oder literarischen Schriften aus dem geliebten 19. Jahrhundert in Frankreich oder dem 20. jenseits und diesseits des Rheins stecken selbst soziale Verhältnisse, darin offenbart sich genauen Lesern die industrielle Vormoderne, die gebündelte Realität Europas samt „1914/1918“, die Entstehung der südeuropäischen Faschismen, die Zukunftsentwürfe, alles. Sicher, der „Autor“ Lepenies – manchmal sagt er auch: der „intellectual historian“ – hobelt viel weg von dem, was zum differenzierten Bild gehört, aber der „Soziologe“ Lepenies hat es dennoch nicht vergessen. Er will nun mal lesbare Texte verfassen. Er klingt, schreibt, spricht süffiger, als die Sache zu erlauben scheint, sodass man das Komplexe dahinter oft nur ahnt. Mitdenken muss man schon, er hat nie anderes behauptet.
Heute, berichtet der Rektor a. D. Wolf Lepenies also entspannt, habe er nur noch Rechte, keine Pflichten im Haus – „obwohl ich das Amt wunderbar fand“. Wissenschaftsorganisator war er mit Lust, und einer, der Genres und Disziplinen zusammenführt, ist er habituell, das ist er auch ohne Amt geblieben. Was die Grundhaltung angeht – das Glas ist bei ihm immer halb voll. Auch das war nie anders. Die neue Offenheit nach 1989, welche Chance! Den Konflikt mit dem Islam sah er voraus, auch wenn das Fanal in New York, am 11. September 2001, keiner erahnen konnte. Lepenies: „Fünf Jahre vorher, nicht fünf Minuten danach“ haben sie sich am Wissenschaftskolleg dem „Islam und der Moderne“ gewidmet. Inzwischen ist daraus „Europe in the Middle East – the Middle East in Europe“ geworden. Das zählt er zu seiner Fünfzehn-Jahres-Bilanz. Zur Rolle heute jedoch kommt ihm ein Satz von Isaiah Berlin in den Sinn, der gescherzt habe, er sei „ein Taxi: ich komme, wenn ich gerufen werde“. Solche passenden Sätze schüttelt er wie stets aus dem Ärmel.
Aber es geht mir hier nicht um Bilanzen und nicht um die Rolle als „Taxi“, ich möchte auf etwas anderes hinaus. Im Jahr 1969, wohlgemerkt, erschien Wolf Lepenies‘ Dissertation unter dem Titel Melancholie und Gesellschaft als Buch. Bücher gibt es, in denen insgeheim alles schon steckt und die sich ein Leben lang entfalten – und dies ist eines von dieser Sorte, wie mir scheint. Es ist seine Blechtrommel, seine Jenny Treibel, sein Henri Quatre. Wiedergelesen habe ich es, bevor ich Wolf Lepenies besuchte. 1969! Der Zeitgeist war auf Aufbruch und Utopie getrimmt. Als habe ihn das alles nicht angefochten, verfolgte Lepenies seine ganz eigene Spur – die Melancholie und das „Interieur“ als Abwehr gegen alles Visionäre, Überschießende, die Vormoderne als das wahre Sujet, während sich die draußen die Köpfe heiß redeten über die Zukunftsgesellschaft und die Krise des Spätkapitalismus! Damals bereits konnte man etwas von seiner Bewunderung für die autonomen Einzelnen ahnen, die ihm geblieben ist. Diskursmensch, der er ist, ließ er sich schon damals auf eigentümliche Weise ein auf La Rochefoucauld und Paul Valéry, Dieter Claessens (sein Doktorvater), Arnold Gehlen, Albert Camus, Denis Diderot, Sören Kierkegaard, Theodor Geiger, Robert Burton, Walter Benjamin ... Enthalten oder zumindest angedeutet war in dieser intellektuellen Arena schon alles, was für ihn später noch gründlicher Thema werden sollte.
Je mehr man liest, umso tiefer wird man auf suggestive Weise hineingesogen in eine Welt, in der die Grenzlinien zwischen konservativ und progressiv, modern und antimodern, drinnen und draußen verschwimmen. Mehr noch – wirkt dieser Einblick in eine irrlichternd vielschichtige, vielstimmige Geisteswelt nicht auf überraschende Weise so, als könne sie auch die Welt von heute, 2014, verstehbarer machen? Das aber, verstehbarer machen, Lebenshilfe leisten, sei doch der Job von Intellektuellen, notierte Lepenies einmal. Seinen Beitrag dazu hat er allein schon mit Melancholie und Gesellschaft geleistet, einem phänomenal geistreichen, anregenden Klassiker, bei dessen Lektüre man sich unwillkürlich fragt, auf welcher Etappe zwischen Rückzug in eine politikmüde Innerlichkeit und Aufbruch aus der vermeintlichen „Bequemlichkeit“ auf der internationalen Bühne sich die Große-Koalitions-Republik gerade befindet.
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Fotos: © Maurice Weiss