Bernhard Waldenfels, Dr. phil.
Professor (em.) der Philosophie
Ruhr-Universität Bochum
Geboren 1934 in Essen
Studium der Philosophie, Psychologie, klassischen Philologie und Geschichte in Bonn, Innsbruck, München und Paris
Arbeitsvorhaben
Phänomenologie von Ort und Raum
Es geht in diesem Vorhaben darum, das reiche Potential einer Phänomenologie des Raumes, die bis auf Autoren wie Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty und Bachelard zurückgeht, gehörig zuzuspitzen. Im Hintergrund steht eine leib-körperliche und lebensweltliche Orientierung, die geeignet ist, Antithesen wie subjektiv gelebter und objektiv gemessener, natürlich gegebener und kulturell erfundener oder technisch konstruierter Raum zu unterlaufen. Der elementare Ausgangspunkt ist die irreduzible Wo-Frage mit all ihren Varianten wie Woher, Wohin, Worin, Worum oder Wie-weit. Eine besondere Rolle spielen Motive wie die Verankerung der Raumerfahrung im Hier und Jetzt, die Polarität von Ort und Raum, das Zugleich von Eigenort und Fremdort, die Erschließung des Raumes durch die zeitliche Bewegung, das Verhältnis von offenen und geschlossenen Räumen sowie der Raum als Umfeld. Es ergeben sich historische Divergenzen, die schon in der terminologischen Vielfalt von Chora, Topos und Spatium zutage treten. Hinzu kommt der Bezug zu raumbezogenen Praktiken, Techniken, Darstellungen, Vermessungen und Pathologien, wie sie in den verschiedensten Disziplinen bearbeitet werden. Das zunehmende Gewicht von Topographie und Geographie gegenüber der Historiographie verdient besondere Beachtung, nicht zuletzt in interkultureller Hinsicht.Lektüreempfehlung
Waldenfels, Bernhard. Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997.
-. "Leibliches Wohnen im Raum." In Kulturtheorien der Gegenwart, herausgegeben von Gerhart Schröder und Helga Breuninger. Frankfurt/New York: Campus, 2001. Wiederabdruck in: Der Architekt. Zeitschrift des BDA, 7-8 (2003).
-, "Topographie der Lebenswelt." In Topologie, herausgegeben von Stephan Günzel. Bielefeld: Transcript, 2007.
Kolloquium, 11.12.2008
Phänomenologie von Ort und Raum: Hier und Anderswo
In einer Grobskizze lassen sich drei große historische Paradigmen von Ort und Raum unterscheiden. Dem aristotelischen Kosmos entspricht der Schlüsselbegriff des Topos, der neuzeitlichen Natur der des Spatium, und in der Gegenwart bietet sich der Husserlsche Begriff der Lebenswelt an.
Rückkehr zur Lebenswelt bedeutet, daß das Konstrukt eines homogenen und isotropen Raumes einem orientierten Raum weicht, der sich von einem leiblichen Hier und Jetzt aus entfaltet. Daraus resultieren qualitativ verschiedene Raumdimensionen, eine Staffelung des Raumes nach Nähe und Ferne, eine Differenz von Innen und Außen und wechselnde Raumordnungen wie etwa in der Anlage einer Stadt. All diese Raumsaspekte haben einen leiblichen Resonanzboden.
Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von realem und symbolischem Raum. Wenn Wer- und Was-Fragen sich mit Wo-Fragen verknüpfen, so besagt dies, daß jede Raumbestimmung bestimmte Bedeutungen empfängt. Gelebter Raum ist von Anfang an gedeuteter und symbolisch überdeterminierter Raum.
Der Raum, den wir mit unseren leiblichen Bewegungen und mit entsprechenden Verkehrsmitteln erschließen, zerteilt sich in aktuelle, habituelle und virtuelle Räumlichkeit. Problematisch und auch pathologisch gestaltet sich dieses Zusammenspiel, wenn sich der räumliche Wirklichkeitssinn vom räumlichen Möglichkeitssinn oder dieser sich von jenem abspaltet.
Der Doppelcharakter des Leibkörpers, also des gelebten Leibes in Einheit mit dem materiellen Körper (einschließlich des Gehirns), wiederholt sich in der Doppelheit eines spezifischen Ortsraumes. Es stellt sich die Frage wie, die Befindlichkeit an einem Ort mit der Einordnung in den Raum zusammengeht. Dies berührt Fragen der Lokalisierung und Datierung singulärer persönlicher und kollektiver Ereignisse und eines Re-entry in die jeweils gestiftete Ordnung.
In der Gegenwart kulminiert die Problematik räumlicher Orientierung und räumlicher Ausbreitung in der doppelten Tendenz eines Globalismus, in dem das leibliche Hier sich zu verflüchtigen droht, und einem Lokalismus, in dem es sich verfestigt. Hier trifft die Philosophie von Ort und Raum sich mit einer entsprechenden Politik. Die phänomenologische Befragung der Raumerfahrung spricht für eine Konjunktion aus von Topos und Atopie, aus Ortsverhaftetheit und Ortlosigkeit, die besagt, daß wir jeweils hier und anderswo sind. Jeder Eigenraum nimmt damit Züge eines Fremdraumes an. Das Ethos der Gastlichkeit findet hier ebenso seinen Platz wie die Verwandlung von Fremdheit in Feindschaft.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Waldenfels, Bernhard (2016)
Anna Konik's view of the other
Waldenfels, Bernhard (Warszawa, 2016)
A grain of sand in the pupil of the eye
Waldenfels, Bernhard (Frankfurt am Main, 2009)
Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen : Modi leibhaftiger Erfahrung Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft ; 1952
Waldenfels, Bernhard (Paderborn, 2008)
Philosophisches Tagebuch : aus der Werkstatt des Denkens ; 1980 - 2005
Waldenfels, Bernhard (Albany, NY, 2007)
The question of the other : the Tang Chun-I lecture for 2004
Waldenfels, Bernhard (Frankfurt am Main, 2007)
Antwortregister Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft ; 1838
Waldenfels, Bernhard (Wien, 2006)
Waldenfels, Bernhard (Frankfurt am Main, 2006)
Schattenrisse der Moral Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft ; 1813
Waldenfels, Bernhard (Frankfurt am Main, 2005)
Idiome des Denkens : deutsch-französische Gedankengänge II Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1777