Ausgabe 11 / Mai 2016
Am Beispiel des Fischs. Was wissen wir vom Schmerz der Tiere?
ein Porträt von Victoria A. Braithwaite, Daniel M. Weary, Paula Droege von Sonja Kastilan
Bambi ist niedlich und sogar ein Filmstar. Aber wer vermisst ein Rehkitz, wenn ein kleiner Clownfisch namens Nemo verloren geht? Selbst ohne Fell und Schnute weckt er in Menschen Empathie und seine animierten Kinoabenteuer verwandeln Fische neuerdings in Sympathieträger. Obwohl wir diese Lebewesen sonst für kalt, stumm und starr halten und Hering am liebsten mit einem Stück Gurke genießen, ohne einen Gedanken an sein Leid zu verschwenden.
Manch einer kann sich vielleicht für Seepferdchen und Kofferfische begeistern oder schätzt die Jagd mit der Angel, um Lachs oder Wels zu überlisten. Doch generell haben Fische einen schweren Stand. Sie begegnen uns als Rollmops, Fischstäbchen, Räucherlachs oder Thunfisch in Dosen, und wir vergessen meist, dass diese Häppchen einmal Wirbeltiere waren. Dass eben auch Fische, ob nun orange-weiß geringelt oder nur silbern glänzend, zu unterschiedlichsten Wahrnehmungen fähig sind. Aber lag Charles Darwin mit seiner Annahme richtig, dass die niederen Tiere sogar wie der Mensch empfinden – Freude und Schmerz, Glück und Unglück?
Ihre aquatische Lebensweise macht Fische zu fremdartigen Wesen, die jedoch Erstaunliches vollbringen können. Indem sie etwa Muscheln mit Hilfe von Steinen aufbrechen, also Werkzeuge einsetzen. Auch sind sie keineswegs stumm, sondern reiben ihre Zähne, knurren oder kommunizieren auf andere Weise, durch Farbwechsel zum Beispiel, und ihre Augen erzählen vermutlich mehr, als wir ahnen. „Nur können sie nicht mit uns über ihre Emotionen sprechen, das macht es natürlich schwer, ihre Fähigkeiten zu erkennen und zum Beispiel ihr Schmerzempfinden direkt zu messen“, sagt Victoria Braithwaite. Der Verhaltensforscherin von der Pennsylvania State University ist das Thema eine Herzensangelegenheit. Am Berliner Wissenschaftskolleg leitet sie eine Schwerpunktgruppe zum Thema „Schmerz“, unterstützt von Daniel M. Weary, einem Verhaltensforscher der University of British Columbia in Vancouver, und Paula Droege, einer Philosophin ebenfalls von der Pennsylvania State University.
Schmerz, das bedeutet weit mehr als die sensorische Wahrnehmung eines potenziell schädlichen, unangenehmen mechanischen, thermischen oder chemischen Reizes oder einer akuten Verletzung des Gewebes. Es ist auch eine subjektiv unangenehme Empfindung, die meist dazu führt, dass man sich fortan anders verhält und so Verletzungen vermeidet. Aber diese Gefühle sind individuell und daher schwer einzuschätzen, besonders bei Tieren, die uns ganz unähnlich sind. Für Braithwaite und ihre Kollegen stellt sich in Berlin die Frage, ob und wie wir diese gefühlte Schmerzerfahrung bei Fischen und anderen Tieren bemessen können. „Wir versuchen die verschiedenen Stadien der Wahrnehmung zu unterscheiden und Experimente zu entwerfen, um zu sehen, wie Tiere reagieren, lernen, sich erinnern und abschätzen, ob eine Umgebung möglicherweise gefährlich ist“, erklärt Braithwaite.
Die Bestimmung dieser gefühlten Komponente von Schmerz hat weitreichende ethische Konsequenzen. Zentral für die Anliegen des Tierschutzes sind die Erfahrungen negativer und positiver Gefühle – der Schmerzen und Freuden des Lebens – bei Tieren. Das Wissen, wann zum Beispiel ein Fisch Schmerz empfindet, wird daher ethische Diskussionen darüber prägen, welchen Verfahren Tiere ausgesetzt werden sollten. Die Sorge um das Wohlergehen von Fischen hat bereits zu Verbesserungen der Verfahren geführt, mit denen Zuchtfische getötet werden. Aber bei den Wildfängen sterben Milliarden durch Methoden, die vermutlich erhebliches Leid verursachen können.
Geschehen die Reaktionen auf Schmerz unbewusst oder bewusst? Und welche Funktion kommt diesem Bewusstsein zu? Welchen Vorteil bietet es? Diese Fragen treiben Paula Droege um und wie die beiden anderen Mitglieder ihrer Schwerpunktgruppe hält sie einen multidisziplinären Diskurs für wichtig, will man dem komplexen Thema Schmerz gerecht werden. Zumal die Debatte meist vom Menschen und seinen Empfindungen ausgeht, schließlich reflektieren wir ständig, wälzen Gedanken über uns und das Kommende. Schwieriger ist, die Perspektive des jeweiligen Tieres einzunehmen und zu akzeptieren, dass nicht nur der Mensch ein Bewusstsein besitzt, sondern zumindest auch Säuger und vielleicht noch weitere Tiere.
„Wenn uns etwas bewusst wird, verleiht uns das Flexibilität – im Handeln. Wir erkennen das Geschehen in der Gegenwart, können uns daran schulen und der Umgebung anpassen“, erklärt Droege, warum das Verständnis von Zeit eine Rolle spielt. Vergangenes beeinflusse unser Verhalten; Bewusstsein helfe, eine Wahl zu treffen. In welchem Maße dies jeweils für ein Lebewesen gelte, sei unter anderem abhängig von der evolutionären Entwicklungsstufe. Nicht jedes Tier denke über morgen nach. Die Zeit am Wissenschaftskolleg wolle man unter anderem dazu nutzen, eine Art Forschungsprogramm zu erstellen, sagt Droege. Es soll die Wissenschaft zum einen herausfordern, zum anderen Lösungswege bieten: „Wir brauchen Tests, um Daten zu erheben, mit denen sich die Thesen zu Bewusstsein und Schmerz überprüfen lassen.“ Wobei es wohl kein Experiment geben wird, das sich allgemeingültig auf jede Art übertragen lässt.
Dass sich ein Schmerzempfinden entwickelte, halten Forscher für einen Überlebensvorteil. Unwahrscheinlich sei, dass es urplötzlich beim Menschen auftrat. Es müsse Vorstufen geben, meint Victoria Braithwaite, schließlich seien wir Teil des evolutionären Prozesses. Die Verhaltensforscherin ist überzeugt, dass Fische Gefühlsregungen zeigen und so etwas wie Schmerz empfinden, „wenn auch nicht auf dieselbe ausgeklügelte Weise wie wir“. Und vielleicht auch nicht alle, wer aber einen Fisch töten möchte, ohne ihn zu quälen, für den gibt es nur einen Rat: es möglichst schnell zu tun.
Das Gehirn eines Fisches ist wesentlich einfacher gestrickt, und Skeptiker ziehen oft neurobiologische Unterschiede in Anatomie und Physiologie heran, um Fischen die Leidensfähigkeit abzusprechen. Beobachtete Verhaltensänderungen überzeugen sie ebenfalls nicht, während sich Braithwaite gerade darauf stützt: „Fische ändern ihre Pläne, damit sie störenden Reizen entgehen, sie sind flexibel.“
Der Nachweis, dass Rezeptoren vorhanden sind, genügt allerdings nicht, entscheidend ist, wie sich deren Stimulation auf das Verhalten auswirkt. Braithwaite konnte mit ihren Mitarbeitern in Versuchsreihen etwa zeigen, dass Regenbogenforellen auf Essigsäure und Bienengift reagieren. „Kopfschmerzen stören unsere Konzentrationsfähigkeit, und auch die Fische verhielten sich anders und näherten sich einem Objekt, das sie sonst meiden würden“, schildert sie die Beobachtungen. Mittels Morphin hätte sich der Normalzustand wiederherstellen lassen, ähnlich wie uns ein Kopfschmerzmittel helfen würde. In natürlichen Gewässern studiert Braithwaite mit ihren Mitarbeitern, wie sich die Umgebung und anwesende Feinde auf das Verhalten auswirken. Und für zusätzliche Experimente wird hin und wieder gefischt: „Wir überlegen im Vorfeld genau, was wir tun und wie viele wir fangen, denn es gibt für die Fische kein Zurück, wenn wir sie ihrem Habitat entreißen“, erklärt Braithwaite. Sie konnte beobachten, dass Fische auch frustriert reagieren. Wenn sie etwa nicht das gewohnte Futter bekamen, veränderten sie das Tempo, ihnen passte es sichtbar nicht, dass es weniger oder von schlechterer Qualität war.
Das Gefühl der Frustration spürt Braithwaite selbst hin und wieder, da sich vor allem Neurowissenschaftler nicht von den wissenschaftlichen Daten überzeugen lassen. Und weil Fische nach wie vor in ihren Fähigkeiten unterschätzt werden, dabei gibt es sogar Kooperationen zwischen zwei Arten: Im Roten Meer bilden bestimmte Zackenbarsche und Riesenmuränen erfolgreiche Jagdgemeinschaften, die auf Kommunikation und Koordination beruhen. Das Beispiel fasziniert, trotzdem fällt es Menschen schwer, den vermeintlich ausdruckslosen Gesichtern eine Regung zuzugestehen oder gar eine Verwandtschaft zu erkennen.
Je ähnlicher Tiere uns erscheinen, desto eher empfinden wir Mitleid mit der geplagten Kreatur, erheben den Schimpansen über eine Ratte, den Fisch über die Kakerlake oder irgendein anderes Insekt. „Der Wert, den ein anderes Lebewesen für uns besitzt, beeinflusst, wie wir seine Fähigkeiten und Empfindungen einschätzen“, sagt Daniel Weary und verweist auf die Medizingeschichte. Als Anästhetika aufkamen, verwendeten Ärzte diese nicht bei jedem gleichermaßen, sondern nur bei Patienten, bei denen sie es für wichtig hielten. Ähnlich urteilt man über das Leid von Tieren, wobei sich das mit der Zeit ändern kann. So wurden Pferde und Rinder als Nutztiere stets respektiert, während Katzen und Hunde heute einen höheren Status genießen als früher.
Losgelöst von dem Problem, ob Tiere Schmerz empfinden, erachtet Weary eine andere Frage für wichtiger: Was genau lässt sie leiden? „Vielleicht empfindet eine Kuh Schmerz nicht so wie wir, entscheidender ist jedoch, ob sie ausweicht und ob ihre Reaktion zeigt, dass sie etwas nicht möchte.“ Für Weary, der sich seit Jahren mit Farmtieren beschäftigt, steht deren Wohlbefinden im Zentrum: „Was bedeutet es für ein Tier, ein gutes Leben zu haben?“ Hundebesitzer oder Bauern erkennen schnell, wenn sich das Verhalten ihrer Tiere ändert oder deren Stimmung schwankt.
Eine Welt ohne Nutztiere und Haustiere möchte sich der Zoologe gar nicht erst vorstellen, und er setzt alles daran, dass es diesen möglichst gut geht. Schließlich beruhe die Beziehung zwischen Tieren und ihren Haltern auf einer langen Kulturgeschichte, und dieser Kontext müsse bei der Entwicklung einer besseren Tierhaltung berücksichtigt werden. Mit seiner Forschung steht er im Dienst der Gesellschaft: „Wir helfen, die Haltungsbedingungen zu verbessern, indem wir versuchen zu verstehen, was Tiere brauchen, was das jeweils Beste für sie ist und was ihnen das geringste Leid zufügt, wenn es denn sein muss, zum Beispiel bei einem notwendigen medizinischen Eingriff.“
Um Unbehagen, Stress, Angst, Schmerz und Leid zu erkennen, genügt die molekulare Ebene nicht; eine erhöhte Konzentration von Stresshormonen im Blut kann auf Erregung im positiven Sinne hinweisen. „Experimente müssen deshalb raffinierter gestaltet werden, um die spezifischen Vorlieben und Abneigungen zu erfahren. Und es ist auch wichtig zu verstehen, was Leid jeweils für ein Tier bedeutet, gerade wenn seine biologischen Bedürfnisse und sensorischen Fähigkeiten sich stark von unseren unterscheiden“, erklärt Weary, dessen Erfahrung mit Versuchsanordnungen Braithwaite und Droege sehr schätzen. Um zum Beispiel die Motivation von Milchkühen, auf die Weide zu gelangen, besser zu verstehen, wurden Kühe trainiert, ein schweres Gatter aufzustemmen. Das Maximalgewicht, das die Kühe zu stemmen bereit waren, konnte dann mit dem Gewicht verglichen werden, das sie zu stemmen bereit waren, wenn sie hungrig waren. Die Untersuchung zeigte, dass Kühe sehr hart „arbeiteten“, um ins Freie zu gelangen: Sie bewegten dazu ungefähr das gleiche Gewicht wie jenes, das sie bewegten, um nach dem morgendlichen Melken an frisches Futter zu gelangen. „Niemand würde Kühen das Frühstück verwehren, oft aber wird ihnen die Weide vorenthalten“, so Weary und stellt damit infrage, was auf vielen Bauernhöfen heute praktiziert wird. In anderen Arbeiten haben Weary und sein Team Methoden zur Erfassung von Gefühlszuständen bei Tieren entwickelt, indem ihre Reaktionen auf unklare Reize getestet wurden. Sie fanden heraus, dass Milchkälber zu einer eher negativen Beurteilung neigten (d. h. einen neutralen Reiz behandelten, als ob es ein negativer sei), wenn sie in den Stunden nach dem Enthornen (ein übliches Verfahren auf Bauernhöfen) Schmerzen hatten. Interessanterweise zeigten Kälber bei der Entwöhnung eine ganz ähnliche Tendenz in den Stunden nach der Trennung von ihren Müttern, was zu der Annahme führt, dass sich emotionaler Schmerz ähnlich auf die Gemütsverfassung von Tieren auswirkt wie körperlicher Schmerz.
Manche Tiere leiden unter Kontrollverlust, andere unter Isolation. Neben der Evolutionsgeschichte haben das Sozialgefüge – Herdentier oder Einzelgänger? – sowie die Lebenserwartung Einfluss auf das Verhalten und das Schmerzempfinden. Diese Faktoren sollten berücksichtigt werden: „Nur wenn das Verhalten verstanden ist, kann man interessante Prognosen erstellen und überprüfen“, sagt Braithwaite, die zwar Fische als empfindsam bezeichnet, aber von den Krustentieren noch nicht überzeugt ist und in Kopffüßlern wie dem Oktopus eine große Herausforderung für die Forschung sieht. Charles Darwin hingegen war da weniger differenzierend, er hielt es für eine Tatsache, dass die niederen Tiere von denselben Gemütsbewegungen betroffen sind wie wir.
Mehr zu: Victoria A. Braithwaite Daniel M. Weary Paula Droege
Mehr zu: Schmerz
Fotos: © Maurice Weiss