Ausgabe 13 / März 2018
Das Haus des Yob
ein Porträt von Carola Lentz, Isidore Lobnibe, Stanislas Meda Bemile von Manuela Lenzen
Familiengeschichte als Familienunternehmen
Die Erinnerung an den Namenspatron der Familie ist verblasst, sein Geburtsdatum unbekannt, sein Todestag unsicher, wahrscheinlich starb er 1943. Gewiss ist nur, dass Yob wie sein Vater Bauer war. Und dass sein Name, der „der Reisende“ bedeutet, nicht recht zu ihm passte. Denn er war einer der ersten seines Clans, der sich zuerst in Ouessa und dann in Hamile an der heutigen Grenze zwischen Ghana und Burkina Faso niederließ und dort blieb. Yob yir, das Haus des Yob, ist heute der Name einer nordghanaischen Großfamilie mit gut fünfhundert Mitgliedern, je nachdem, wen man dazu zählt. Die wenigsten von ihnen leben noch auf dem Stammland der Familie, die meisten sind in andere Regionen Ghanas oder Afrikas gezogen, arbeiten in Europa oder in den USA. Und drei von ihnen forschen derzeit am Berliner Wissenschaftskolleg: Stanislas Meda Bemile, ehemaliger Staatssekretär im Ministerium für Kultur, Kunst und Tourismus von Burkina Faso, seine (Adoptiv-)Schwester Carola Lentz, Ethnologin an der Universität Mainz, sowie beider Neffe um ein paar Ecken, Isidore Lobnibe, Professor für Ethnologie an der Western Oregon University in den USA. Zusammen bilden sie die Schwerpunktgruppe Familiengeschichte und sozialer Wandel in Westafrika und wagen damit ein Experiment: Sie rekonstruieren, wie die ökonomischen, sozialen und religiösen Umbrüche von der Kolonial- und Postkolonialzeit bis in die Gegenwart die Lebensweise, die Erinnerungspraxis und den Zusammenhalt einer typischen westafrikanischen Familie verändert haben – ihrer eigenen.
Die Wurzeln dieser ungewöhnlichen Konstellation reichen zurück bis in die 1980er-Jahre. Carola Lentz, die Leiterin der Schwerpunktgruppe, hatte gerade eine Stelle als Sozialanthropologin an der Freien Universität Berlin angenommen. „Schon kurz nachdem ich die Stelle angetreten hatte, sollte ich Studenten bei der Feldforschung in Afrika begleiten“, erzählt die Ethnologin. „Meine Kollegen und ich haben wirklich über der Karte gesessen und überlegt: Mein Französisch war nicht so gut, Sierra Leone zu ungewöhnlich, Nigeria zu groß, Gambia zu klein, warum also nicht Ghana?“ In den 1950er- und 1960er-Jahren hatte es in diesem Teil Westafrikas viel ethnologische Forschung gegeben, danach kaum noch. So fiel die Entscheidung, und Lentz verliebte sich gleich beim ersten Besuch in Land und Menschen: „Die Ghanaer waren fantastisch!“
Den Kontakt zum Hause Yob vermittelte Sebastian, ein Enkel des Gründervaters, der in Heidelberg und Saarbrücken Linguistik studiert hatte und nach 15 Jahren in Deutschland gerade nach Ghana zurückgekehrt war. „Als mein erster Besuch bei der Familie zu Ende ging, gab mir Anselmy, einer der Söhne von Yob und Sebastians Vater, eine Botschaft an seinen Sohn mit, den ich in der Hauptstadt Accra treffen würde“, berichtet Carola Lentz. „Die Botschaft bestand aus einem einzigen Satz in einer Sprache, die ich nicht verstand und erst später lernte. Ich notierte den Satz und las ihn Sebastian vor. Trotz meines komischen Akzents verstand er sofort, was gemeint war: Seine Schwester sei gekommen. Ich war zu einem Mitglied des Yob yir, des Hauses von Yob, geworden.“ Später kam Sebastian nach Berlin, unterrichtete Studierende in der lokalen Sprache Dagara und half, Familien zu finden, die Studierende aufnehmen wollten. „Adoption wurde in der Familie von Yob und bei ihren Verwandten zu einer regelrechten Mode“, erinnert sich Lentz. „Die Nachbarn fingen an zu lästern: Ist eure Familie so klein, dass ihr jetzt Weiße aufnehmen müsst?“
Isidore Lobnibe war gerade mit der Schule fertig, als er zum ersten Mal als Assistent an Carola Lentz’ Forschung zu Arbeitsmigration, ethnischen Identitäten und Bodenrecht teilnahm. Die Ethnologie faszinierte ihn, und nachdem er einen ersten Abschluss in Geschichtswissenschaft erworben hatte, sattelte er um und promovierte 2007 an der University of Illinois in Kulturanthropologie mit einer Arbeit über Dagara-Migranten im Süden Ghanas. An der Einladung nach Berlin reizt ihn die Möglichkeit, nun gemeinsam, gut zwanzig Jahre später, mit Carola Lentz die Geschichte der eigenen Familie zu erkunden. „Mich interessieren vor allem die verschiedenen narrativen Strategien der Familienmitglieder“, sagt er.
Stanislas Meda Bemile hat Filmwissenschaften in Ouagadougou und Paris studiert, Kommunikation und Marketing unterrichtet, war Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Ouessa und Staatssekretär im Ministerium für Kultur, Kunst und Tourismus von Burkina Faso. Er arbeitete an einer Biografie seiner verstorbenen Mutter, als seine große Schwester anfragte, ob er bei einem Forschungsprojekt über die Geschichte und Erinnerungskultur der eigenen Familie am Wissenschaftskolleg mitarbeiten würde. „Ich dachte sofort: Wir sollten nicht nur ein Buch über die Erinnerungen der Familie machen, sondern auch einen Film“, erinnert er sich. Die Politik kam seinen Plänen entgegen: „Im Oktober 2014 gab es einen Aufstand in Burkina Faso, die Regierung wurde gestürzt und die Bürgermeister entlassen. Dann stellte mich die neue Regierung als Staatssekretär ein. Ich habe gekündigt, kurz bevor ich nach Berlin kam – und hatte Zeit für dieses Projekt.“
Nun sitzen die drei Verwandten in einem großen Büro des Wissenschaftskollegs in Berlin-Grunewald um einen Tisch, der genug Platz bietet, um viel Papier auszubreiten, werten Interviews mit Familienmitgliedern aus und beraten, in welche Form sie das komplexe Familienleben gießen könnten. Auf einer großen Tafel haben sie versucht, die Struktur der verzweigten Familie zu entschlüsseln. An mehreren Stellen laufen gestrichelte Linien ins Nichts, ist der Rand der Tafel erreicht, bevor alle Namen und Beziehungen aufgezeichnet werden konnten. „Wir haben hier nur die Nachkommen von Yob und einer seiner Frauen und die Nachkommen von Gerardo, dem Großvater von Isidore, der über eine nicht ganz nachvollziehbare Linie mit Yob verwandt war“, erklärt Lentz.
Schon bei dieser elementaren Fleißarbeit fanden die Forscher sich mitten in den Prozess verstrickt, den sie erforschen wollen, denn die Erinnerungskultur der Familie ist selbst gerade im Umbruch. Dass sie sich überhaupt als „Haus des Yob“ versteht, ist ein relativ junges Phänomen: „Als ich in den 1980er-Jahren dort hin kam, stand der Name nur für eine Abstammungslinie. In den 1990ern stand dann irgendwann an der Wand: Willkommen bei der Familie Yob!“, berichtet Lentz. Der Begriff war umfassender geworden. „Also dachte ich, warum nehmen wir ihn nicht für unser Unternehmen, er klingt so gut.“ Dann aber musste die Forscherin feststellen, dass längst nicht alle Mitglieder der Familie mit Yob als Gründervater einverstanden sind. Es gäbe auch andere Kandidaten, etwa Gerardo, der sich mit seiner Familie auch früh auf dem heutigen Stammland niederließ, oder dessen Vater.
„Um ein Haus zu begründen, muss man weder reich noch charismatisch sein, man muss nicht einmal viele Kinder haben, es ist eher Glück, wer im Nachhinein als Gründervater eines Hauses gilt“, erklärt Stanislas Meda Bemile. „Ein Haus ist eher ein konstruktivistischer Begriff, den die Nachgeborenen definieren“, ergänzt Lentz. „Die Familie schafft sich in ihren Erzählungen einen Mythos, nicht in dem Sinn, dass er nicht wahr wäre, sondern als Geschichte, die die Identität einer sozial diversen und an verschiedenen Orten lebenden Großfamilie bestimmt und sie zusammenhält.“
Und die Pflege eines solchen Mythos entspricht gerade dem Zeitgeist. „Seit zwanzig oder dreißig Jahren gibt es einen Trend, der im Süden Ghanas begonnen hat, den Trend, die Biografie des eigenen Vaters und der eigenen Familie zu schreiben“, erklärt Lentz. In Deutschland habe es im 19. Jahrhundert eine ähnliche Mode gegeben. „Damals begann man Familienstiftungen einzurichten, um sich um die zu kümmern, denen es nicht so gut geht. Dazu musste definiert werden, wer dazugehört. Das wurde mal restriktiver und mal großzügiger gehandhabt. In den Familienstiftungen an der Küste Ghanas nahm man als Gründervater für gewöhnlich den gebildetsten Vorfahren, an den man sich erinnern konnte. Etwas Ähnliches sehen wir jetzt auch im Norden Ghanas, es steht aber erst am Beginn. Das ist ein spannender Moment, man kann beobachten, wie das Gedächtnis der Familie sich entwickelt.“
Und tatkräftig entwickelt wird, denn natürlich strickt die Schwerpunktgruppe selbst mit an dem, was sie erforscht: „Sie wissen natürlich alle, dass wir ein Buch über die Familie schreiben. Viele wollen dazu beitragen, und manche wollen auch ein bisschen kontrollieren und wissen, was über sie drinstehen wird“, sagt Stanislas Meda Bemile lächelnd. „Ich denke viel darüber nach, was das Buch für die Familie bedeuten wird. Wir könnten sie alle zusammenbringen, sie würden die Erinnerungen der Familie besser kennenlernen und besser verstehen, wer sie sind. Vielleicht stärkt es den Zusammenhalt.“
In der Tat haben sich die Bedingungen, um eine Großfamilie zusammenzuhalten, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts radikal gewandelt. Vor Beginn der Kolonialherrschaft lebten die Mitglieder der Familie mal diesseits, mal jenseits der Linie, die Burkina Faso und Ghana so schnurgerade voneinander trennt, wie es nur künstlich gezogene Grenzen vermögen. Die Bauern schwendeten Land und bestellten es, ihre Söhne blieben auf dem heimischen Hof oder zogen ein paar Kilometer weiter, vielleicht mit einem Bruder oder Onkel, um Land für die eigene Familie urbar zu machen. 1898 begann die Kolonialherrschaft Großbritanniens in Ghana und die Frankreichs im heutigen Burkina Faso. Sie legten die Grenze fest, begannen jedoch erst nach 1910 und eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg, sie so zu demarkieren und auch geltend zu machen, dass es die Wanderungsbewegungen der Menschen störte. Als in den späten 1930er-Jahren die ersten Kinder zur Schule geschickt wurden, gingen diejenigen, die im späteren Burkina Faso lebten, in französischsprachige Schulen, in den Schulen des späteren Ghana sprach man englisch. Da einige Bauern des Yob yir auf die „französische“ Seite der Grenze zurückkehrten, wuchsen Mitglieder derselben Familie in unterschiedliche Bildungssysteme hinein.
Bis in die 1950er-Jahre prägte die Landwirtschaft das Leben der Menschen; lediglich die jüngeren Söhne der Familien arbeiteten saisonweise in den Goldminen oder auf den Kakaoplantagen des Südens. Seit den 1950er- und 1960er-Jahren jedoch arbeiteten zunehmend weniger Familienangehörige als Bauern. Die Landwirtschaft reichte nicht mehr aus, um das Leben zu finanzieren. Heute ist es eine Minderheit, die „das Herdfeuer warm hält“. „Viele haben einfache Arbeiten als Hausmeister oder Wachleute, seit den 1970er-Jahren gibt es auch mehr und mehr gut ausgebildete Familienmitglieder: Kleriker, Beamte und Intellektuelle“, berichtet Isidore Lobnibe.
Für den Zusammenhalt der Familie ist der Landbesitz im ghanaischen Heimatdorf vielleicht noch wichtiger als der Name des Hauses. Zum einen ist das Land eine Art eiserne Reserve. „Wenn nichts mehr geht, kann man dorthin zurückkehren, und die Familienmitglieder im Dorf werden einen zumindest nicht verhungern lassen. Das ist in einem Staat, in dem das System der Sozialversicherungen nicht so ausgebaut ist, wie wir das kennen, wichtig“, erklärt Lentz. Noch wichtiger sei der symbolische Aspekt der Zugehörigkeit: Die Verbindung zum Landbesitz der Familie definiert, wer man ist. „Wenn man etwas werden möchte, muss man einer bestimmten Familie angehören, Land haben, auf das man verweisen kann, oder zumindest ein traditionelles Stadtviertel, in dem man die eigene Familie bis auf die Stadtgründer zurückverfolgen kann. Wer keine solche Basis hat, ist keine vollständige Person.“ Das gilt bis heute und über die Landesgrenzen hinweg: „Ich bin Universitätsprofessor und definiere mich als Intellektueller, trotzdem muss ich meine Familienbande pflegen“, konstatiert Lobnibe. „Als Familienmitglied wird man täglich daran erinnert, was die eigene Position ist, als Mann, als Sohn, als Vater.“
Nagt nicht der weltweite Trend zur Kleinfamilie am Zusammenhalt des Hauses Yob? „Ja und nein“, sagt Isidore Lobnibe: „Ich lebe mit meiner Familie in den USA, doch ich besuche Ghana jeden Sommer mit meinen Kindern.“ Zu wichtigen Anlässen, vor allem zu Beerdigungen, treffen sich die Familienmitglieder ohnehin in Ghana. „Ich kenne Kinder, die sich bei ihren Eltern beklagen, dass sie ihnen die lokale Sprache nicht beigebracht haben, dass sie sie nicht mit nach Ghana genommen haben, als sie klein waren, sie suchen ihre Wurzeln“, berichtet Lobnibe. Zudem erleichtern es die sozialen Medien, in Kontakt zu bleiben. „Die Kinder stehen alle über ihre Smartphones in Verbindung, ich selbst nutze Instagram, Twitter und Facebook, um mit der Familie Kontakt zu halten“, sagt Stanislas Meda Bemile.
Carola Lentz bewog nicht nur der Umfang ihres Forschungsprojekts, nach Mitstreitern in der eigenen afrikanischen Familie zu suchen: „Da sind auch all die moralischen Fragen, die ich nicht allein entscheiden kann: Was sind Familiengeheimnisse, die nicht in die Öffentlichkeit gehören? Wie halten wir es mit der Anonymisierung? Welche Geschichten erzählen wir, wessen Geschichten und aus welcher Perspektive? Welche schwarzen Schafe der Familie sollten besser nicht vorkommen?“ Gibt es kein Problem mit der Objektivität, wenn man zugleich Subjekt und Objekt der Forschung ist? „Nein“, sagt Isidore Lobnibe: „Wir reflektieren unsere Methoden und Meinungen und die Narrative, die wir entwerfen, und es ist uns auch sehr bewusst, wer die Adressaten sind.“
Nach der Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse hat die Schwerpunktgruppe sich auf die Suche nach Forschungsarbeiten gemacht, an denen sie sich orientieren könnte. „Wir haben nach brauchbaren narrativen Konzepten und Theorien gesucht. Wollen wir so etwas wie die Buddenbrooks oder eher etwas Experimentelleres?“, berichtet Lentz. Dabei stellten sie fest, dass es nicht einmal eine Handvoll wissenschaftlicher Studien gibt, die die Geschichte einer afrikanischen Familie zum Gegenstand haben. „Und Sie finden auf der ganzen Welt keine einzige wissenschaftlich anerkannte Studie, bei der Mitglieder der Familie als gleichberechtigte Forscher und Autoren beteiligt sind.“
Das genaue Format, welches das Ergebnis der Arbeiten einmal haben wird, steht noch nicht fest: Die Audiofiles ihrer zahlreichen Interviews und die Videoaufnahmen von Familienfesten, die sie gesammelt haben, sollen in einer Art Familienarchiv zugänglich gemacht werden, Familienmitglieder könnten dann weitere Geschichten ergänzen. Einen Film, ein weit fortgeschrittenes Buchprojekt und einen Artikel über das Familienunternehmen Familiengeschichte selbst wollen die Forscher bis zum Sommer vorlegen. „Aber wir können wieder besser schlafen, seit wir uns klargemacht haben, dass unsere Aufgabe hier Work in Progress ist und auch im Sommer noch sein wird“, sagt Lentz: „Immerhin ist das hier Pionierarbeit.“
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Fotos: © Maurice Weiss