Ausgabe 16 / Februar 2021
Vom Verfertigen einer Identität
von Manuela Lenzen
Migration, Identität und Ungleichheit im Zeitalter globaler (Im)mobilität
Mit der Globalisierung reist eine alte Utopie um die Welt: die Idee, Menschen könnten nun überall unterwegs und zuhause sein, wahre Weltbürger, deren Staatsangehörigkeit und Herkunft keine Rolle mehr spielen. „Für eine kleine Elite jetsettender Leistungsträger ist ein solches Weltbürgertum inzwischen Wirklichkeit geworden“, konstatiert Migrationsforscherin Jaeeun Kim, Associate Professor für Soziologie an der Universität Michigan in Ann Arbor und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg. „Für die allermeisten Menschen aber sind nationale Grenzen nach wie vor schwer zu überwindende Hindernisse. Und nur wenige Menschen können tatsächlich ziehen, wohin sie mögen. Es kommt sehr darauf an, wo man herkommt und welchen Pass man besitzt.“ Jaeeun Kim spricht seit vielen Jahren mit Menschen, die aus dem globalen Süden in den Norden gezogen sind oder mit diesem Unternehmen scheiterten, fragt nach ihren Erfahrungen, ihren Strategien und ihrem Selbstverständnis. Dabei ist sie auf ein doppeltes Paradox gestoßen: Ausgerechnet in der globalisierten Welt wird nationale Identität immer wichtiger. Der Pass, den eine Person besitzt, bestimmt immer stärker, wohin sie gehen kann und zu welchen Bedingungen. Zugleich sagt er immer weniger darüber aus, wo sich jemand zuhause fühlt und wie er oder sie sich selbst sieht.
Nach ihrem Abschluss in Rechtswissenschaften und Soziologie an der Seoul National University bereitete Jaeeun Kim ihr Promotionsstudium an der University of California, Los Angeles vor. Als sie die zahlreichen Dokumente zusammentrug, die sie für ein US-amerikanisches Visum benötigte, wurde ihr schnell klar, dass Pässe Identitäten definieren. „Bevor ich in die USA ging, spielte es für mein Selbstverständnis keine Rolle, Koreanerin zu sein, ich habe mir einfach keine Gedanken darüber gemacht“, so Kim. „Aber die ganze Grammatik des internationalen Reisens, die ich in den nächsten Jahren lernen musste, hat mich von etwas anderem überzeugt.“ Das schärfte ihren Blick auf staatliche Versuche, objektiv festzumachen, wer jemand ist, und welche Rolle der Pass dabei spielt. Ihr wurde klar, dass es Pässe gibt, mit denen einem die Welt offensteht, und andere, mit denen man festsitzt, ob man will oder nicht. Migration, Identität und Ungleichheit sind seither die großen Themen von Jaeeun Kim.
Das Thema ihrer Dissertation, die Migration von Koreanern zwischen China, Korea und Japan im langen 20. Jahrhundert, fand seinen Niederschlag in ihrem preisgekrönten Buch Contested Embrace: Transborder Membership Politics in Twentieth-Century Korea (Stanford University Press, 2016). Die Dynamik von Identitätsfragen zeichnet sie darin vor allem anhand der „Rückkehr“ ethnischer Koreaner aus Nordostchina nach Südkorea nach. Diese Nachkommen von Koreanern, die während der japanischen Besetzung Koreas nach China flohen, wandern seit den 1990er-Jahren nach Südkorea aus. Die südkoreanische Wirtschaft sei damals besser aufgestellt gewesen als die chinesische und habe ihnen bessere Arbeitsmöglichkeiten geboten. „Außerdem sprachen die meisten von ihnen fließend Koreanisch, das machte Südkorea zu einem der attraktivsten Ziele.“ Die südkoreanische Regierung habe es den Migrantinnen und Migranten allerdings nicht leicht gemacht, habe die grenzüberschreitende Migration argwöhnisch betrachtet und durch gesetzliche Vorgaben erschwert. „Und wenn diese Menschen schließlich in Korea ankamen, waren sie schockiert, dass die Südkoreaner sie als Chinesen betrachteten“, berichtet Jaeeun Kim. Im Zuge dieser Forschung bekam sie einen Eindruck von den Strategien, die koreanisch-chinesische Migrantinnen und Migranten verfolgen, um unfreiwilliger Immobilität zu entkommen und mit den verschiedenen Systemen der Migrationskontrolle umzugehen.
Verschiedene legale und weniger legale Strategien, die dabei eine Rolle spielen, fasst Kim unter „identity craft“, sozusagen das „Verfertigen einer Identität“, zusammen. Sie berichtet etwa von koreanischstämmigen Chinesen, die vor der politischen Teilung des Landes im Norden geboren wurde, sich nun aber gezwungen sahen, eine südkoreanische Herkunft zu erfinden, um den Einreisebestimmungen Südkoreas zu entsprechen. Identitäten zu verfertigen, um den Anforderungen des Staates, in dem man leben möchte, zu entsprechen, ist ein verbreitetes Phänomen, so Kim. „Manche erwerben Pässe, mit denen sie sich nicht wirklich identifizieren, um ihre Migrationsmöglichkeiten zu verbessern. Andere heiraten zum Schein, um in ein Land zu gelangen oder zu verhindern, dass sie abgeschoben werden. Wieder andere rücken die Geschichte ihrer Leiden und ihrer Unterdrückung so zurecht, dass sie zu den Mustern passt, die Flüchtlingsinstitutionen vorgeben.“
Die Grenzen zwischen wahrer und nur zum Schein angenommener Identität sind nicht immer klar, betont Kim. „Dieses Zurechtschneidern einer Identität ist nicht bloß Maskerade, es verlangt eine intensive Neuorientierung, bis hin zur Veränderung der sozialen Beziehungen. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen selbst. Das Selbstverständnis eines Menschen, der eine Identität nur zum Schein annimmt, kann sich verändern.“ Ein Beispiel dafür sind Scheinehen. Man geht eine Ehe ein, um in einem anderen Land leben zu können, rein instrumentell. „Aber dabei bleibt es oft nicht. Ein solcher Schritt verändert den Menschen, seine Lebensweise und seine familiären Beziehungen. Und manchmal wird man zu der Person, die man nur vorgeben wollte zu sein“, schließt Kim. „Ich interessiere mich besonders für diese komplizierte Beziehung zwischen der Wirklichkeit auf dem Papier und der Lebenswirklichkeit, zwischen Papieridentität und Selbstverständnis.“
Einen anderen Aspekt, der beim Konstruieren von Identitäten eine Rolle spielt, nennt Kim „Moralökonomie“: Sie erforscht, wie Menschen die Migrationspolitiken verstehen, denen sie unterworfen sind, wie sie deren Legitimität beurteilen und welche Strategien, diese Systeme zu unterlaufen, sie selbst für moralisch zulässig halten. „Moralökonomie“ steht etwa für Versuche, Verstöße gegen Migrationsgesetze damit zu rechtfertigen, deren Forderungen seien ohnehin unanständig, oder legitime Ziele, wie ein besseres Leben für die Familie, seien anders eben nicht zu erreichen. Solchen Strategien, die die Grenzen zwischen legal und illegal überschreiten, liegen oft sehr feste Vorstellungen von Verpflichtung, Moral und Ehre zugrunde, so Kim.
Kims zentrale Methoden sind ethnografische Beobachtungen und Interviews. Sie beschreibt sich als qualitative Soziologin, kann aber auch Geschichte und Ethnologie: „Ich verwende historische Methoden, führe qualitative Interviews und mache ethnologische Beobachtungen; meine Forschung ist sehr interdisziplinär.“ Für den theoretischen Rahmen hilft ihr z. B. Bourdieu: „Ich denke, seine Beschreibung des Staates ist interessant, um zu verstehen, wie das Pass- und Visasystem funktioniert, warum offizielle Dokumente so wichtig sind, wie die Migrationsbürokratie von diesen Dokumenten abhängt und wie sie zwischen mehr und weniger wertvollen Pässen unterscheidet.“ Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt sei zudem nützlich, um zu verstehen, welche Formen der Migration von Staaten als legitim, welche als kriminell angesehen werden und wie diese Unterscheidung zur ungleichen Verteilung von Chancen, Ehre, Ansehen und moralischem Wert in der Welt beiträgt.
Manche der aus China kommenden Koreaner fanden in Südkorea keine dauerhafte Heimat und zogen weiter, etwa in die USA. Jaeeun Kim reist wissenschaftlich mit ihnen: Im Mittelpunkt ihres neuen Buches mit dem Arbeitstitel Redemption: Asylum-Seeking on Religious Grounds in the Era of Involuntary Immobility stehen Koreanerinnen und Koreaner, die aus China in die USA emigrierten, und die Frage, welche Rolle religiöse Zugehörigkeit für diese Migration spielt. „Studien haben gezeigt, dass Religion für Immigranten neue Optionen von Zugehörigkeit bietet“, stellt sie fest. Die Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft ebne auch illegalen Migrantinnen und Migranten oft den Weg zur Integration in eine neue Gemeinde, helfe manchmal, die Verbindung zur alten Heimat aufrechtzuerhalten, und führe zu einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer übernationalen Gemeinschaft. „Christ zu sein gilt auch als Zeichen der Assimilation. Amerikaner zu werden und Christ zu werden, das ist eng verflochten.“ Bei Menschen, die Asyl beantragen, weil sie wegen ihres Glaubens verfolgt werden, ist die Religion auch derjenige Aspekt, der den Asylantrag überhaupt erst möglich macht. Und wie die Scheinehe und der Pass, kann ein Pro-forma-Bekenntnis Türen öffnen. Und ebenso kann es den Menschen verändern: „Manchmal führt ein nur zum Schein angenommenes Bekenntnis dazu, dass sich Menschen im Zug eines langen Asylprozesses wirklich mit einem neuen Glauben identifizieren.“
Jaeeun Kim versucht, einen umfassenden Blick auf Migrationsprozesse zu bekommen: Sie untersucht die Rolle der Herkunftsstaaten der Migrantinnen und Migranten, die Rolle staatlicher und religiöser Stellen, Gesetze und Verwaltungspraktiken und auch die Rolle kommerzieller Migrationsvermittler, die im Leben der meisten Migrantinnen und Migranten eine große Rolle spielen. „Alle diese Institutionen haben ihre eigene, manchmal miteinander widerstreitende Logik. Sie alle haben andere Vorstellungen davon, wer Asyl verdient, und durch ihre Interaktionen produzieren sie erwünschte, aber auch unerwünschte Konstellationen.“ Zudem sei auch das Asylsystem nicht frei von den zutiefst ungleichen Regelwerken, so Kim. „Anders als zumeist angenommen, bevorzugt es systematisch die mit den größeren Ressourcen gegenüber denen, die wirklich arm sind. Die Verwundbarsten haben viel größere Schwierigkeiten, mit den komplizierten, teuren und langwierigen Prozeduren zur Erteilung von Visa oder der Feststellung des Flüchtlingsstatuts zurechtzukommen.“ Es sei aber wichtig zu sehen, dass die Migrantinnen und Migranten in dieser Dynamik eine aktive Rolle spielen. „Sie sind keine passiven Opfer. Sie haben ihre festen moralische Überzeugungen, verschiedene Ressourcen und innovative Strategien, wie sie damit umgehen.“ Migration muss als Prozess verstanden werden, ist Kim überzeugt. Sie hofft, dass ihre Langzeitforschung in den USA, China und Südkorea ihr eine tiefgehende Analyse der verschiedenen Prozesse der Selbsttransformationen ermöglichen wird, die Migranten und Asylsuchende durchlaufen. „In Deutschland etwa hat die Konversion iranischer Asylbewerber zum Christentum eine ähnliche Dynamik, auch die untersuche ich in meinem neuen Buchprojekt. Ich hoffe, es wird Licht auf einige der dringendsten Fragen der Gegenwart werfen: nach globaler Ungleichheit, Migrationsregimen und einer humanistischen Politik.“ Am Wissenschaftskolleg hat sie jetzt ausreichend Zeit, diese komplexen Fragen zu beleuchten.
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Fotos: © Maurice Weiss