Christoph König, Dr. phil.
Professor für Neuere und Neueste deutsche Literatur
Universität Osnabrück
Geboren 1956 in Innsbruck, Österreich
Studium der Philosophie, Germanistik und Amerikanistik an der Universität Innsbruck
Arbeitsvorhaben
"Wie man Nationen am Schreibtisch erfindet": zu einer kritischen Wissenschaftsgeschichte europäischer Philologien
Der Gedanke, dass die Philologien ihre eigene Geschichte sind, bleibt ein Aperçu, solange man nicht - gegenläufig - in der Geschichtlichkeit (und Relativität) philologischer Praxis und Theorie allgemeine Formen der Fächer, ihre "Universalien" auszumachen sucht. Zudem gilt es, das kritische Potential der Philologien für eine Aktualität zu wecken, die Forschung, Politik und Kultur gleichermaßen erfasst. Im 19. Jahrhundert lag die Aktualität in der Anleitung, "Wie man Nationen am Schreibtisch erfindet", und die disziplinäre Innenseite, das Metier in der Analyse von Sprache, Textzeugnis und Literatur, kam dagegen oft nicht an. Gerade in diesem Konflikt von Funktion und Handwerk oder Methodologie manifestiert sich indes der wissenschaftstheoretische, allgemeine Kern der Philologien, der mit den deutschen Modellen (ob national, komparatistisch oder ästhetisch-sprachphilosophisch) in die Länder Europas wanderte. In der Analyse des Transfers kehrt man zur Geschichte und zur Aufgabe zurück, geistesgegenwärtig Begründungsfiguren für die philologische Praxis in einem mehrsprachigen Europa zu schaffen. Da sich die Problematik vorzüglich im Verstehensvorgang konzentriert, lautet die Hauptfrage meines geplanten Buchs: Welche Philologie möchte man - zugunsten literarischer Werke und ihrer Individualität - heute verteidigen?Lektüreempfehlung
König, Christoph. Hofmannsthal: Ein moderner Dichter unter den Philologen. (2001), 2. Aufl., Götttingen: Wallstein, 2006 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 2.)
König, Christoph. "'Stockungen' - Wilhelm von Humboldt liest Schillers Gedicht 'Der Spaziergang'. Plädoyer für eine Wissenschaftsgeschichte der Literatur." Euphorion 101, 1 (2007): 1-32.
König, Christoph. "Reflections of Reading: On Paul Celan and Peter Szondi." Telos 140 (2007): 147-175.
König, Christoph. Häme als literarisches Verfahren: Günter Grass, Walter Jens und die Mühen des Erinnerns. Göttingen: Wallstein, 2008. (Göttinger Sudelblätter.)
Kolloquium, 31.03.2009
Zur Interpretation von Rilkes Sonett "O komm und geh"
Im Mittelpunkt meines Vortrags steht das Sonett II,28 "O komm und geh" aus Rainer Maria Rilkes Zyklus "Die Sonette an Orpheus" (1922). In der Formulierung des Vortragstitels "Zur Interpretation ..." ist eine Reserve enthalten. Sie meint: Läßt sich der individuelle Sinn des Gedichts besser verstehen, wenn man über das Verstehen nachdenkt? Und: In welcher Form soll nachgedacht werden?
Verstehen ist eine Tätigkeit, eine Praxis, die über handwerkliche Regeln verfügt, nicht aber über Regeln zur Anwendung dieser Regeln. Der Leser steht vor jedem literarischen Werk stets von neuem wie ein blutiger Anfänger. Die Praxis ist von der Ableitung des Werks aus Theorien zu unterscheiden. Mein Fach hat sich daran gewöhnt, Werke als Diagnosen theoretischer (philosophischer, soziologischer, psychologischer, linguistischer) Annahmen zu gebrauchen: Die Literaturwissenschaft begreift sich heute gerade kraft ihrer (rasch wechselnden) Theorien als Wissenschaft. Um den Preis, das jeweils Individuelle der Werke zu verkennen.
Die Literaturwissenschaft ist historisch eine späte Disziplin. Sie hat sich innerhalb der Philologien und gegen sie entwickelt, aus einer Praxis heraus, die in der Edition von Werken und deren Kommentar besteht. Die methodische Naivität der Philologen war sprichwörtlich geworden, denn diese hatten in ihrem Fleiß jene Theorie vergessen, die ihrer Praxis galt und um 1810 ausgebildet vorlag: auf die "Hermeneutik und Kritik" von Friedrich Schleiermacher. Die Hermeneutik Schleiermachers ist kritisch im Sinn Kants - sie formuliert die Bedingungen, die "Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen" und widmet sich hierbei den Schwierigkeiten, die sich dem Verstehen entgegenstellen, vor allem der Individualität der fremden Rede.
Mein Vortrag widmet sich Problemen der Hermeneutik heute: Wie vermögen Werke aus einem großen historischen, kulturellen, geographischen Abstand zu uns zu sprechen? Um darauf zu antworten, muß man den Sinn schärfen (a) für die Idiomatik der Werke, d.i. ihre Fähigkeit, einen eigenen "Referenzrahmen" zu entwickeln (oft auch mit eigener Lexik und Grammatik), innerhalb dessen sich der Sinn des einzelnen Werks erst konstituiert. Und (b) für die Historizität des Verstehens, die sich gerade in der Schwäche des wissenschaftlichen Diskurses zeigt. Den Wahrheitsanspruch einer Lektüre hat schon Schleiermacher in seiner "Dialektik" an die Diskussion mit anderen Interpreten gebunden; heute ist man durch die Wissenschaftsgeschichte gewarnt und will Lektüren auf ihre strategischen und normativen Abhängigkeiten hin prüfen. Meine These lautet, daß Werke durch ihre Idiomatik sich in die Lage bringen, das historische Material (einschließlich späterer Interpretationen) zu reflektieren, zu brechen, sich anzueignen. Diese kritische Praxis, die ein Verhältnis herstellt, ist dem Verstehen zugänglich.
Ob auf diese Weise Rilkes Gedicht zu verstehen ist, soll die Interpretation zeigen; es wäre unangemessen, sie hier zu resümieren. Man widerspräche dem Praxisgebot: "The proof of the pudding is in the eating".
Publikationen aus der Fellowbibliothek
König, Christoph (Göttingen, 2023)
Kreativität : Lektüren von Rilkes ›Duineser Elegien‹
König, Christoph (Göttingen, 2023)
Werke ; Folge DE ; Duineser Elegien und zugehörige Gedichte : 1912-1922 Duineser Elegien
König, Christoph (2022)
Geschichte der Philologien ; Doppelheft 61/62 (2022) Geschichte der Philologien ; Doppelheft 61/62 (2022)
König, Christoph (2021)
Geschichte der Philologien ; Doppelheft 59/60 (2021) Geschichte der Philologien ; Doppelheft 59/60 (2021)
König, Christoph (Göttingen, 2021)
Zweite Autorschaft : Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches "Also sprach Zarathustra" und "Dionysos-Dithyramben" 2. Autorschaft
König, Christoph (2020)
Geschichte der Philologien ; Doppelheft 57/58 (2020) Geschichte der Philologien ; Doppelheft 57/58 (2020)
König, Christoph (2020)
König, Christoph (Göttingen, 2020)
Lektüre und Geltung : zur Verstehenspraxis in der Rechtswissenschaft und in der Literaturwissenschaft Philologien ; [Band 6]
König, Christoph (2019)
Geschichte der Germanistik ; Doppelheft 55/56 (2019) Geschichte der Germanistik ; Doppelheft 55/56 (2019)
König, Christoph (2018)