Schwerpunktgruppe 2015/2016
Russland - Rechtsstaatlichkeit auf dem Prüfstand
Nach gängiger Vorstellung ist „russisches Recht“ ein Oxymoron. In der Berichterstattung wird über Korruption, Kriminalität und Gesetzlosigkeit geklagt, die im russischen Alltagsleben zuhause seien. Doch in der Russischen Föderation funktioniert das Recht heute sehr wohl. Der Berufsstand der Juristen floriert und die Zahl der Fälle, die vor russischen Gerichten verhandelt werden, ist seit den 1990er-Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Gesetzgebung ist ein wesentliches Mittel der Regierung des Landes und wird in der Presse und anderen Medien diskutiert. Kann die verstörende Kluft zwischen der weitverbreiteten Vorstellung, dass Russland ein Ort der Gesetzlosigkeit sei, und der gegenwärtigen Realität – nämlich die Rechtstreue im russischen Alltagsleben – von Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtwissenschaftlern produktiv thematisiert werden?
Auf Grundlage einer Reihe von Seminaren und Diskussionsrunden untersucht die Schwerpunktgruppe die russische Rechtskultur, indem sie die Charakteristika der Rechtsstaatlichkeit in Russland seit den kaiserlichen Zeiten bis heute herausarbeitet und analysiert. Das Hauptaugenmerk unserer Forschung liegt darauf, wie das Gesetz im Alltag in Aktion tritt – in der gesetzlichen Regelung und Verhandlung von zivilrechtlichen Streitigkeiten und Kleinkriminalität. Die Forscherinnen ziehen sowohl ethnografische als auch Archivquellen heran, um langfristige Muster rechtlichen Handelns in mehreren Regionen und zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen aufzuspüren. Dabei konzentrieren sie sich auf die entscheidende Rolle des Beamtentums mittlerer Ebene wie auch auf die dichtesten und untersten Schichten des Rechtswegs. Wir hoffen, Annahmen über das Recht aufzudecken, die die Eliten, Beamten und Untertanen gemeinsam haben – oder auch nicht. In diesem Projekt wollen wir auch die Spannung untersuchen, die einerseits zwischen den normalen Verpflichtungen russischer Bürger gegenüber dem vorhandenen Rechtssystem herrscht und andererseits ihrer Meinung, dass es „wirkliches Recht“ in Russland nicht gibt. Unsere Annahme lautet so: Wenn wir die Rolle des Rechts in der politischen Steuerung und im Alltagsleben in Russland verstehen, so lässt dies Schlussfolgerungen auf die anhaltende Transformation staatlicher Macht in der politischen Ordnung und an anderen Stellen im ehemaligen sowjetischen Machtbereich zu.
Diese Versuche, den Entwicklungsverlauf des russischen Rechts zu interpretieren, verbinden das Projekt mit theoretischen Fragen nach der Rechtsstaatlichkeit. Ein Ausgangspunkt für unsere Untersuchungen ist die Erkenntnis, dass das russische Rechtssystem mit anderen Traditionen viel gemeinsam hat, jedoch mit ganz eigenen Strukturen und Grundannahmen operiert. Die doppelte Herausforderung unseres Projekts besteht darin, die Grundeigenschaften des russischen Rechts ans Licht zu bringen und die Kategorie „Rechtsstaatlichkeit“ zu öffnen – für eine pluralistischere Perspektive auf die Rechtssysteme der Welt.
Jane Burbank und Tatiana Borisova